Venedig ist ein so faszinierender wie widersprüchlicher Ort. Letzte Woche besuchte ich die Lagunenstadt an der Adria ein weiteres Mal. Auf dem Programm stand auch ein Besuch der noch laufenden Architekturbiennale. Alter Schwede! Das dortige Angebot an Beitragen war – zumindest für mich – sprichwörtlich und im übertragenen Sinn unfassbar. Eine Orientierung war schwierig. Inhaltlich ging es gemäss offiziellem Motto um das Ausloten der Zukunft. Offensichtlich ein ambitioniertes Unterfangen. Damit standen Tür und Tor für alles Mögliche und Unmögliche offen: Poetisches, Provokatives, Futuristisches, Denkwürdiges, Langweiliges, Anregendes, Tiefschürfendes, Banales, Plumpes oder Raffiniertes waren vor Ort zu finden.
Gebäude: Lizenz zum Geld ausgeben
Im kanadischen Pavillon weckte eine «Gentrification Tax» mein Interesse (vgl. Bild oben). Ob eine Besteuerung von Aufwertungsgewinn auf Grundstücken, die in Toronto monierte Wohnungsnot effektiv zu lindern vermag, bezweifle ich. Statt nachfolgend auf den Topos der Wohnungsnot einzugehen, möchte ich – einmal mehr – auf eine bekannte, aber umso wichtigere Banalität bzw. Realität hinweisen: Gebäude altern. Damit sie funktionsfähig bleiben, brauchen sie viel Pflege und noch mehr finanzielle Mittel. Bauliche Eingriffe in bestehende Bauten von unterschiedlicher Intensität werden früher oder später unverzichtbar. Dazu gehören auch Abwägungen wie Ersatzneubau versus Sanierung. Oder anders und schnörkellos formuliert:
«Wer ein Haus baut, begründet eine Investitionskette» (*).
Letztere löst den Fluss von Stoffen und von Geld aus. Neben der physischen Dimension gilt es den ursprünglichen, aktuellen und allfälligen zukünftigen Zweck der Gebäude im Auge zu behalten. Denn jedes Gebäude ist ein Zweckbau und bestehe der jeweilige Zweck «nur» im Repräsentieren.
Wandel als Konstante – auch für Gebäudenutzungen
Vor und in der prachtvollen Kulisse Venedigs lässt sich dieser Produktlebenszyklus idealtypisch an zwei konkreten Fällen beobachten. Direkt bei der Rialto-Brücke befindet sich einerseits der imposante Bau der Fondaco die Tedeschi, einem Einkaufszentrum. In früheren Zeiten diente der Bau Kaufleuten als Lager- und Handelsort. Später befand sich in diesen Räumlichkeiten die Hauptpost von Venedig. Andererseits sei das ursprüngliche Zolllager und die Zollstation erwähnt. Sie beherbergen seit 2009 ein Kunstmuseum für zeitgenössische Kunst: Die Punta della Dogana. Diese exemplarisch genannten Wandlungen der Nutzungen fügen sich nahtlos und folgerichtig in den globalen wirtschaftlichen Strukturwandel ein. Venedig ist seit Jahrhunderten keine Drehscheibe mehr für den Handeln, sondern ein Touristenmagnet erster Güte.
Der diesjährige Beitrag im Pavillon der Niederlande lautet «The Waterworks of Money». Die Zeichnungen und animierten Kunstlandschaften erklären einerseits die Geldwirtschaft. Und andererseits werden interessante Fragen zum finanz- und realwirtschaftlichen Kreislauf aufgeworfen. Die Architektin Carlijn Kingma erkundet darin spielerisch und metaphorisch die Institutionen und die Wirkung von lokalen, regionalen, nationalen und globalen Geldströmen. Die beiden dazugehörigen Videos verdienen das Attribut sehenswert.
Die Moral von der Geschichte
Auf der Rückreise nach Zürich nutzte der Zug den alten Gotthardtunnel. Meine Gedanken kreisten um das nötig gewordene Flicken des teilweise massiv beschädigten Gotthard-Basistunnels. Die SBB hatte gerade darüber informiert, dass die Schäden im Tunnel so gravierend seien, dass erst im kommenden September wieder mit einem Normalbetrieb gerechnet werden könne. Diese Reparaturaktion wird aber nicht die einzige Infrastrukturbaustelle im Gotthardmassiv sein. Weshalb?
In wenigen Wochen wird nach drei rund Jahren Vorbereitungsarbeiten und fast acht Jahre nach der nationalen Volksabstimmung der Vortrieb für die eine weitere Tunnelröhre starten. Der 1980 eröffnete Strassentunnel muss umfassend saniert werden. Damit während der Sanierungszeit von 2029 bis 2032 eine direkte wintersichere Autoanbindung des Tessins und Italiens gewährleistet sein wird, braucht es eine zusätzliche, parallel zum heutigen Autotunnel verlaufende zweite Röhre. Sie soll 2029 eröffnet werden.
Die mutmasslichen Gesamtkosten betragen 2.8 Milliarden Franken. Die Projektierung und der Bau des ersten Strassentunnels verschlangen damals 686 Millionen Franken. Die Kosten für den neuen zusätzlichen Tunnel werden mit 2.18 Milliarden Franken veranschlagt. Die reine, nicht qualitätsbereinigte Bauteuerung beträgt über die letzten 50 Jahre einen Faktor 3.
Fazit: Gentrifizierung bildet den Lauf der Dinge ab
Wer baut, sollte die zukünftigen Instandsetzungskosten und deren dereinstige Finanzierung nicht ausblenden, sondern sie beide vorausschauend mitdenken. Die gebaute Infrastruktur der Schweizer Volkswirtschaft war und ist nicht gratis. Eine Binsenwahrheit, aber eben doch eine Wahrheit. Das Erbgut («DNA») jeder neu gebauten Immobilie – unabhängig von ihrem Kaliber und Nutzung – bedingt zukünftige Stoff- und Geldflüsse. Die Kreislaufwirtschaft lässt grüssen (Dazu machte man sich im Pavillon von Deutschland Gedanken).
Beim Strassentunnel-Projekt am Gotthard liegt es gar nahe, wenn dort eine Form von unterirdischer Gentrifizierung ausgemacht wird: aus eins wird zwei. Statt «nur» einer Röhre werden in weniger als zehn Jahren zwei Autotunnels für einen hoffentlich reibungslosen und störungsfreien Ablauf des alpenquerenden Strassenverkehrs vor Ort sorgen. Die Kapazitäten sollen gemäss dem Bundesamt für Strassen unverändert bleiben…
Quellen und Hinweise:
(*) Karl Dürr, II Die Bewertung von Baugrundstücken, 1960.