Feldforschung mit Hund im urbanen Umfeld
Zusammen mit Bosko, unserem Hund, durchstreife ich den Zürcher Kreis 6 täglich. Dabei gibt es immer viel zu entdecken und zu beobachten: Amüsantes, Unerwartetes, Aggressives oder Poetisches. Dabei regt ein Einfamilienhaus mit blumiger Wiese meine Fantasie immer wieder an. Sie, die Wiese, fällt mit über 1'000 Quadratmetern für städtische Verhältnisse üppig aus. Aber die Fenster des Hauses sind mit Spanplatten verbarrikadiert. Eine kleine Tafel an der Haustüre warnt: «Achtung Asbestsanierung! Betreten verboten». Die Dachrinnen lecken. Die Szenerie wirkt gespenstig. Vieles kommt versifft daher. Und das Gebäude steht seit Jahren leer: ein vergessener Ort mitten in der Stadt Zürich.
Vom gutbürgerlichen Haushalt zur herrenlosen Sache
Die Geschichte dieses Hauses geht so: In den 1920er-Jahren kauft der Architekt E. W. ein Stück Land im Quartier Oberstrass. Dort realisiert er auf der grünen Wiese eine Zeile Reiheneinfamilienhäusern. Er verkauft das Eckhaus an den promovierten Ingenieur H. P. Zusammen mit seiner Frau, einer promovierten Juristin, lebt das Ehepaar bis über vier Jahrzehnte an dieser Adresse. Seine Frau T. P. engagiert beruflich für die Einführung des Doppelbürgerrechts. Und sie publiziert bereits in den 1950er-Jahren in einem renommierten Fachverlag über die Einführung des Stockwerkeigentums als Eigentumsform. Der im Herbst 1955 gegründete «Verein zur Förderung des Eigentums an Wohnungen und Geschäftsräumen in der Schweiz» (*) ist an der Wohnadresse der Familie P. domiziliert.
Das Ehepaar hatte drei Kinder. Eine der beiden Töchter übernimmt nach der Erbteilung zu Beginn der 1990er-Jahre die Liegenschaft im Kreis 6. Sie wohnt vor Ort. Irgendwann kommt Sand ins Getriebe. Die bürgerliche Fassade beginnt zu bröckeln. Ab 2016 werden Rechnungen nicht mehr bezahlt: Entsorgungsgebühren, Gebühren für Wasser oder Prämien für die Krankenkasse. Die säumige ältere Frau wird betrieben. Erfolglos. Ihre Spuren verlieren sich. Seit einem gefühlten Jahrzehnt schlummert ein Wohnhaus mit rund 300 Quadratmeter Wohnfläche verlassen vor sich hin. 2021 wird die Liegenschaft kurzzeitig besetzt. Es bleibt ein Strohfeuer, wieder Leben ins Gebäude zu bringen.
Szenenwechsel zur Mainstream-Wahrnehmung
Wenige hundert Meter vom dieser verlassenen Liegenschaft warten zwei unbebauten Grundstücke darauf, bebaut werden. Davon zeugen seit über drei (!) Jahren Baugespanne. Typisch, denke ich mir, da müssen Rekurse hängig sein. Logisch, dass die Neubautätigkeit mit Wohnungen nicht (mehr) in die Gänge kommt. Sie soll nur schleppend verlaufen. Ganz zu schweigen von den ausufernden, dschungelhaften Bauvorschriften. Dazu gesellen sich sperrige Lärmschutzvorschriften. Doch stimmt dieses Narrativ?
Als Zahlenmensch konsultiere ich gerne einschlägige Statistiken von Statistik Stadt Zürich. Dort findet sich Bemerkenswertes: Im letzten Jahr, also 2023, wurden auf Stadtgebiet leicht über 3'000 neue Wohnungen fertiggestellt. Die Jahrgänge 2018 und 2015 der Baustatistik schaffen es – mit gut 3'300 Wohnungen bzw. rund 3'200 Wohnungen – gar in die Top Ten der Baustatistik. Sie beginnt im Jahr 1911, sprich sie umfasst 113 Jahre.
Fazit: Von einer Flaute der Wohnbautätigkeit kann keine Rede sein. In einer historischen Perspektive betrachtet trifft das Gegenteil zu. Letztmals wurde die Marke 3'000 Wohnungen pro Jahr Mitte der 1950er-Jahre übertroffen. Zum Vergleich: Die 1990er-Jahre waren diesbezüglich ein Jammertal. So wurden 1997 nur rund 400 Wohnungen gebaut. Welch ein Unterschied zu heute.
Die Wohnungsproduktion der jüngeren Vergangenheit liegen wohl gemerkt auch deutlich über dem langjährigen Mittel, wenn Umbauten und Abbrüche von Wohnungen in das Kalkül miteinbezogen werden. Die Zahlenreihe über die jährliche Quote mit der Anzahl Neubauten pro 1'000 Einwohner findet ihr, liebe Leserinnen, liebe Leser, im Titelbild dieser Blogs.
Die Moral der Geschichte
Eine persönliche Vorbemerkung: Zur Vermeidung von allfälligen Missverständnissen möchte ich festhalten, dass ich eine ausgeprägte Aversion gegen Leerläufe, Bürokratie und Regimen à la Dienst nach Vorschrift habe. Sie sind konsequent zu bekämpfen. Sinnwidriges muss weg. Keine Frage. Aber behindern geltende Baugesetze und dazu gehörige Rechtsmittel die Neubautätigkeit über Gebühr? Mag sein.
Doch Daten lügen nicht. Natürlich können sie falsch oder tendenziös interpretiert werden. Gleichwohl zeigt sich hier ein mutmassliches Paradox: Nur in wenigen Gemeinden dürfte der Entwicklungs-, Planungs- und Bewilligungsprozess so anspruchsvoll wie in der Limmatstadt ausfallen. Trotzdem läuft der kommunale Baumarkt wie geschmiert. Vor diesem Hintergrund vermute ich, dass andere handfeste Flaschenhälse eine noch stärkere Wohnungsproduktion hemmen.
Kehren wir zur eingangs beschriebenen «herrenlosen» Liegenschaft im Kreis 6 zurück. Sie zeigt exemplarisch, wo der Hase (auch) im Pfeffer liegen könnte: in toxischen, in komplexen oder in angespannten Eigentümerschaften. Namentlich handelt es sich hierbei um Konstellationen wie
entscheidungsschwache oder -unfähige Eigentümer
im internen Streit liegende und daher blockierte Eigentümerschaften
überforderte oder beratungsresistente Eigentümer
fragmentierte und verästelte Eigentümerstrukturen (u. a. im Ausland ansässig)
finanzschwache und damit nicht wenig kreditwürdige Eigentümer
oder effektiv herrenlose Liegenschaften mit einen Entscheidungsvakuum.
Sie alle sind endogen, individuell und für Dritte unsichtbar. Folglich lassen sich sie sich nicht durch veränderte Rahmenbedingungen spürbar beeinflussen oder gar kurieren. Sie sind dagegen immun. Meine Vermutung besteht darin, dass die Dunkelziffer von solchen Konstellationen hoch ist. Insofern sind die erwarteten Wirkungen von Deregulierungs- und Entschlackungsbestrebungen in Verbindung mit bauaffinen Normen nicht überschätzt werden. Sie können keine Wunder vollbringen.
Bleibt am Schluss die österliche Hoffnung, dass in die verwaiste Liegenschaft im Kreis 6 bald wieder Leben einziehen wird. Dabei gilt es im übertragenen Sinn an eine Devise des Philosophen Ludwig Hasler zu erinnern: «Der Lebenssinn liegt vor der Haustür, man muss nur nach ihm greifen.»
Anmerkung:
(*) Der Verein wird von Armin Meili präsidiert.