Mietrechtliche Evidenz
Im Rahmen eines Due-Diligence-Prozesses nahm ich die Mieterspiegel von drei identischen Mehrfamilienhäusern unter die Lupe. Sie, die Liegenschaften sollen verkauft werden. Ein Mietverhältnis in diesem Mieterspiegel stach mir dabei ins Auge: Eine der Mietparteien lebt seit sage und schreibe mehr als 53 Jahren – ununterbrochen – in derselben Mietwohnung. Kundentreue pur.
Ökonomische Analyse des Mietrechts: pfadabhängiger Mietzins
Nach landläufiger Sichtweise sollte diese Mieterin einen vergleichsweisen moderaten Mietzins berappen. Die eigene Datenanalyse der rund 90 Mietverträge zeigt, dass diese Vermutung in der Tendenz korrekt ist: Die Quadratmetermiete pro Jahr liegt mit rund 150 Franken deutlich unter dem Median von gut 200 Franken. Das 90%-Quantil der untersuchten Mietverträge lässt sich gar bei 243 Franken verorten. Gleichwohl gilt es diese Faustregel zu relativieren.
Aber zahlt diese Mieterin auch den tiefsten Mietzins? Nein, das ist trifft im vorliegenden Fall nicht zu. Die tiefsten Quadratmetermieten bewegen sich leicht über 100 Franken. Die Spannbreite zwischen dem tiefsten und dem höchsten Wert beträgt einen Faktor 2.5. Aufgepasst: Die untersuchten Wohnungsqualitäten sind hier sehr ähnlich. Die Wohnungen besitzen denselben Ausbaustandard, weisen dieselbe Makro- und Mikrolage auf, und es handelt sich durchwegs um 3.5- oder 4.5-Wohnungen. Die unterschiedlichen Wohnungsflächen werden zudem über die Quadratmeterbetrachtung standardisiert. Wie lässt sich die beachtliche Bandbreite der Mietzinsen erklären?
Zuerst eine Vorbemerkung: Die Streuung der Mietzinse bei nahezu identischen Mietwohnungen in derselben Liegenschaft bildet die Regel und nicht die Ausnahme. Folgende vier Faktoren beeinflussen in der vorgenommenen Querschnittsanalyse die ermittelten Quadratmeterpreise massgeblich:
- Des Abschlussdatum bzw. die bisherige Dauer des Mietverhältnisses
- Die schiere Anzahl der Mieterwechsel bzw. der Vertragsabschlüsse pro Wohnung
- Die zeitliche Abfolge der Mieterfluktuation pro Wohnung
- Das Verhalten der Mieterparteien, ob sie eigene Mietzinsen angefochten haben
Neben diesen mietrechtlichen Stellschrauben kommen zwei weitere Faktoren dazu: Einerseits das Geschoss, auf dem sich die Wohnung befindet. Hier beissen sich die Präferenzen der Mieterhaushalte (sprich die Zahlungsbereitschaft) mit dem vermeintlichen Paradigma der Kostenmiete offensichtlich. In der Praxis besteht folgende (naheliegende) Korrelation: Mit zunehmender Geschosszahl nimmt der mittlere Mietzins pro Quadratmeter Wohnfläche in der Regel zu. Andererseits kommt der herrschenden Angebots- und Nachfragesituation – eine Marktsituation im engeren Sinn liegt weder faktisch noch rechtlich vor – ausschliessen. Ich nenne es den Momentum-Faktor.
Die Moral von der Geschichte
Die vorliegende Analyse bestätigt – für Insider einmal mehr – Bekanntes: Ausser in Konstellation bei Erstvermietungen lassen sich in Schweizer «Mietwohnungsmarkt» nie reine Marktmieten beobachten. Denn die entsprechende Preisbildung darf und kann nicht als Spot-Preis im hier und jetzt verstanden werden. Oder anders formuliert hat im Grundsatz jeder heute beobachtete Mietzins eines bestehenden Mietverhältnisses für eine Wohnung seine eigene Geschichte und damit seine individuelle Herleitung. Erst wenn diese Genese aufwendig rekonstruiert würde, liesse sich das aktuelle Niveau des Mietzinses schlüssig erklären. Bei der beobachteten Grösse handelt sich mit anderen Worten um ein Unikat. Ob der Einzelfall «repräsentativ» ist, bleibt somit reine Spekulation.
Das bedeutet im Umkehrschluss das Folgende: Die ominöse mietrechtlich relevante Bezugsgrösse der orts- oder quartierüblichen muss methodisch zwingend anders hergeleitet werden, als das bis anhin der Fall war. Das Abstützen auf ein paar wenige Einzelfälle, sprich Vergleichsobjekte bzw. Mietverträge, generiert Zufallsergebnisse. Letztere sind nicht hinreichend robust. Insofern sind sogenannte Marktmieten, die allenfalls kursieren, mit der gebührenden Vorsicht zu geniessen.
Zurück zur eingangs erwähnten Marathon-Mieterin. Ihre Treue zur eigenen Mietwohnung hat sich für sie teilweise ausgebezahlt. Der Inflationsschub und das kräftige Ansteigen des mietrechtlichen Referenzzinssatzes zwischen 1988 und 1992 hat ihr bis zu einem gewissen Grad einen Strich durch die Rechnung gemacht. Vielleicht wäre von Zeit zu Zeit ein freiwilliger Tapetenwechsel eine bedenkenswerte Option.