Vor zwei Tagen, am 8. Juni 2024, wurde neue Albulatunnel der Rhätischen Bahn feierlich eingeweiht. Eine ideale Bühne für ein Stelldichein von Politik und Wirtschaft. Die eingeweihten Infrastrukturbauten ändern sich, die mit ihnen verbundenen Inhalte der Einweihungsreden, die Symbolik und die Festakte sind hingegen austauschbar.
Zu den Fakten: Der eingeweihte Bahntunnel misst 5'860 Meter. Er verläuft parallel zum bisherigen Tunnel. Letzterer hat das Oberengadin mit dem nördlichen Teil des Kantons Graubünden während 121 Jahren bahntechnisch verbunden. Seit 2008 gehört dieser Tunnel als einer von vielen Brücken und Tunnels als Bestandteil der Bahnstrecke von Thusis bis Tirano zum UNESCO-Welterbe.
Die Kosten für die neue Infrastrukturanlage betragen 407 Millionen Franken. Umgelegt pro Laufmeter Tunnel ergibt sich Wert von 69'450 Franken. Das Bauwerk dürfte in zahlreichen Bereichen Standards setzen. Es versetzt hingegen keine Berge. Das gilt insbesondere mit Blick auf die allfälligen Wirkungen in den Immobilienmärkten im Oberengadin. Die Baute verhält sich diesbezüglich neutral. Alles andere wäre auch eine Überraschung (gewesen). Denn weder die einschlägige Projektankündigung noch die zehnjährige Bauphase und auch nicht die Aufnahme des operativen Bahnbetriebs ab Mitte Juni 2024 werden das aktuelle und zukünftige Geschehen in den örtlichen Bau- und Immobilienmärkten beeinflussen. Es handelt sich um eine Nullnummer. Das war aber nicht immer so. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt grundlegende ökonomische Muster in der Erwartungsbildung.
Rückblende ans Ende des 19. Jahrhunderts: Hohe Ingenieurkunst im Albulatal
1890 erteilt der Bund eine Konzession, um eine weitere Bahnlinie im Kanton Graubünden realisieren und betreiben zu können. Die fragliche Strecke von Thusis nach St. Moritz hat eine Länge von 61 Kilometern. Ihr Herzstück bildet der Albulatunnel I. Ende Mai 1902 wird der Durchstich vermeldet. Die Fertigstellung des Tunnels erfolgt nach fünfjähriger Bauzeit im April 1903. Der ordentliche Bahnbetrieb wird am 1. Juli im selben Jahr aufgenommen. Die Strecke endet vorerst in Celerina. Die Anbindung der Gemeinde St. Moritz erfolgt erst ein Jahr später, am 10. Juli 1904.
Die Realisierung dieses Tunnels kostet rund 7.3 Millionen Franken (*). Dieser Betrag nimmt sich im direkten Vergleich mit dem heutigen Bauvolumen sehr bescheiden aus. Das heutige Bauwerk kostet unter dem Strich nominal rund fünfzig Mal mehr. Die allgemeine Bauteuerung und die Inflation zwischen 1900 und 2024 dürften mit einem gefühlten Faktor 15 markant tiefer liegen. Auch wenn solche Vergleiche naturgemäss anspruchsvoll ausfallen, kann im Rückblick das damalige monetäre Preis-Leistungs-verhältnis für den damaligen Tunnel als vorteilhaft taxiert werden. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn tragischerweise ereignen sich in der Bauzeit 16 tödliche Arbeitsunfälle. Zudem erleiden zahlreiche Arbeitskräfte bleibende körperliche Schädigungen.
Scheinbare Kapriolen im St. Moritzer Bodenmarkt: Preissignale funktionieren
Mitten in der Bauphase – im November 1901 – nimmt die «Schweizer Hotel-Revue» eine Meldung der «Engadiner Post» auf (**). Sie bezieht sich auf die Bodenpreise in St. Moritz. Demnach haben sich im Surpunt-Gebiet von St. Moritz Bad die Bodenpreise innerhalb nur eines Jahres von knapp 5 Franken auf bis 20 Franken und 50 Rappen pro Quadratmeter erhöht. Mit anderen Worten vervierfachen sich die Bodenpreise in dieser kurzen Zeit. Die damaligen Landeigentümer versteigern ausgewählte Grundstück öffentlich. Daher waren und sind die seinerzeit realisierten Preise publik.
Die Ursache für diesen dokumentierten Preisschub liegt auf der Hand. Ein epochales Bahnbauprojekt wirft seinen Schatten ins sonnige Engadin voraus. Die dortigen Akteure antizipieren die infrastrukturbedingte Veränderung bzw. die verkehrstechnische Verbesserung der Makrolage der Tourismusdestination im Oberengadin: ein echter «Game-Changer». Durch die erwartete und die später tatsächliche Präsenz der Rhätischen Bahn im Engadin werden in den nachfolgenden Jahrzehnten massive regionalökonomische Potenziale geschaffen und auch mobilisiert. Dass mit dieser bevorstehenden Bahnanbindung des Oberengadin eine epochale Zeitenwende einherging, lässt sich auch an einer anderen historischen Begebenheit ermessen: Zwischen 1900 und 1925 herrscht im Kanton Graubünden ein generelles Autofahrverbot. Das Mobilitätsniveau im Kanton fällt folglich in dieser Zeit äusserst moderat aus.
Die Moral der Geschichte
Sofern Märkte existieren und sie auch funktionieren, liefern Transaktionspreise und deren Entwicklungen wertvolle Anhaltspunkte darüber, was Markteilnehmer denken und vermuten: Man spekuliert darüber, was kommende Veränderungen auslösen oder bewirken könnten. Märkte verarbeiten neue Informationen und transformieren sie effizient und unverfälscht in «Preisschilder». Freilich gehören dazu auch Luftschlösser. Man täuscht sich kollektiv und setzt aufs falsche Pferd. Blasen platzen. Keine Frage. Unabhängig davon spielen in jedem Fall die Zukunftserwartungen und indirekt auch der «Glaube» an die Zukunft der Akteure eine herausragende Rolle auf das effektive heutige Marktgeschehen.
Im konkreten Fall konnten die damaligen Eigentümer von St. Moritzer Grundstücken zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf eine so bequeme wie «elegante» Art und Weise massiv Zufallsgewinne («windfall gains») einfahren. Die Risiken dieser Landeigentümer waren – zumindest im Rückblick betrachtet – überschaubar. Denn seither ist die Tourismusindustrie der Taktgeber der Engadiner Wirtschaft. Bahnbrechende und teilweise ikonenhafte Infrastrukturbauten der Rhätischen Bahn wirken vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Sinne von Katalysatoren für diesen regional äusserst bedeutsamen Wirtschaftszweig.
Die Zeiten ändern sich. Die Konstante für Akteure im Bau- und Immobilienmarkt bestand schon immer und besteht auch weiterhin darin, so früh als möglich, verlässliche und belastbare Vorstellungen (keine Visionen!) darüber zu entwickeln, wie sich Standorte, Gebiete oder Regionen in der Schweiz in den nächsten Dekaden mutmasslich verändern dürften. Denn Investitionsrechnungen mit Häusern und Gebäuden gehen mit jahrzehntelangen Nutzungsdauern einher. Weitblick ist in diesem Geschäft mehr denn je gefragt. An entsprechenden Herausforderungen mangelt es nicht. Insbesondere durch die spürbaren Auswirkungen des Klimawandels werden vielerorts die Karten neu gemischt. Insofern ist zu erwarten, dass sich dabei die Tourismusindustrie (inklusive der dazugehörigen Bauten) auch im alpinen Raum neu erfinden muss. Beruhigend zu wissen, wenn dieser Wandel im Kanton Graubünden statt auf einer potenziell maroden, auf einer soliden, zukunftsgerichteten öffentlichen Verkehrsinfrastruktur fussen kann.
Quellen:
Tec 21, 2013, Heft 18, S. 13 ff.
«Schweizerische Hotel-Revue», Band 10, Nr. 48, 30. November 1901, S. 2.
Titelbild:
Weissenbach Placid, Das Eisenbahnwesen der Schweiz, erster Teil, die Geschichte des Eisenbahnwesens, Zürich 1913, nach S. 264; Statistisches Jahrbuch der Schweiz für das Jahr 1891, S. 97; Statistisches Jahrbuch der Schweiz für das Jahr 1914, S. 86.