Kürzlich suchte mein Vater juristischen Rat bei mir. Es ging um eine Reiseversicherung. Er hatte den Vertrag vor rund fünf Jahren abgeschlossen. Die Versicherungsgesellschaft erinnerte ihn kurz vor Ablauf der Vertragslaufzeit mit einem Brief darauf hin, dass sich der fragliche Vertrag automatisch verlängern werde. Selbstredend mit einer happigen Erhöhung der Prämie. Auch bei ausgezeichneter Gesundheit halten sich die Reiseaktivitäten meines Vaters aufgrund seines fortgeschrittenen Alters seit geraumer Zeit in Grenzen. Ein entsprechender Versicherungsschutz wurde mehr und mehr obsolet. Was tun? Eine Konsultation des «Kleingedruckten» brachte rasch eine Klärung: Der Vertrag musste bis Ende Mai 2020 gekündigt werden. Damit konnte er die Sache in seinem Sinn erledigen und ad acta legen.
Mir hingegen fiel es wie Schuppen von den Augen: Das sogenannte Kleingedruckte – oder im juristischen Fachjargon Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) genannt –, dürften im Nachgang zur Corona-Krise zur Kampfzone werden. Dabei gilt es in Erinnerung zu rufen, was ein zweiseitiges Rechtsgeschäft im Kern bedeutet: «Zum Abschluss eines Vertrages ist die übereinstimmende gegenseitige Willenserklärung der Parteien erforderlich» (Art. 1 OR). Dieser Konsens muss alle wesentlichen Vertragspunkte umfassen. Dabei gilt grundsätzlich Vertragsfreiheit nach der Massgabe von Art. 19 und 20 OR.
Im zeitgenössischen Wirtschaftsleben ist es seit Langem üblich, dass für den Abschluss von gleichartigen Verträgen vorformulierte Vertragsklauseln benutzt werden. In solchen Verträgen wird in der Regel auf die dazugehörigen AGB verwiesen. Sie sind integrale Vertragsbestandteile. Sie dienen zur Vervollständigung und Ergänzung von gesetzlichen Regeln oder Gerichtsurteilen oder bedingen dispositive Normen des Gesetzes weg. AGB werden einerseits von einer Partei fix vorgegeben. Andererseits dürften nur wenige Gegenparteien diese vor und schon gar nicht nach Vertragsabschluss lesen, sei es diagonal oder gar gründlich. Letzteres kann ins Auge gehen. Denn es wird oft ausgeblendet, dass AGB nicht systematisch, aber in der Tendenz zu Lasten der Gegenpartei (des Kunden) formuliert sind.
Man muss kein Hellseher sein, um zu erahnen, dass im Zuge der Covid-19-Pandemie die bisherigen AGB generell eher früher als später auf den Prüfstand kommen werden. Man ist auf diesen Sachverhalt sensibilisiert. Es gilt also die bisherigen massentauglichen Regeln auf ihre einschlägige Krisentauglichkeit hin zu prüfen. Denn in AGB werden schon heute eine Vielzahl von denkbaren und möglichen Szenarien in juristischen Kategorien minutiös abgehandelt.
Das gilt im Grundsatz auch bei Verträgen zur Miete von Wohn- und Geschäftsräumen. Aber im Kontext des hiesigen Mietrechts dürften bis zu Beginn dieses Jahres selbst die klügsten und versiertesten Juristinnen und Juristen eine Epidemie oder eine Pandemie nicht auf ihrem Radar gehabt haben. Dem herrschenden Zeitgeist gehorchend werden sie alle sowohl den Blickwinkel als auch die Geltungsbereiche verschieben bzw. ausdehnen. AGB werden überarbeitet werden. Diese Diagnose ist so sicher wie das Amen in der Kirche.
Was ist die Moral von der Geschichte? Über die Gültigkeit von spezifischen Klauseln in AGB gibt es eine stattliche Anzahl von Gerichtsurteilen. Dabei haben sich mehrere Prinzipien bei der Auslegung herausgebildet. Dazu gehört die sogenannte Ungewöhnlichkeitsregel. Sie besagt, dass Klauseln in AGB, die ungewöhnlich sind, keine Gültigkeit haben. Ungewöhnlich sind sie dann, wenn sie geschäftsfremd oder überraschend sind.
Sollte dereinst das höchste Gericht der Schweiz über eine strittige Fortsetzung der Mietzinszahlung in Verbindung mit AGB-Klauseln und einer aussergewöhnlichen Lage ein Urteil fällen müssen, wird diese Regel als ein Kriterium natürlich in die rechtliche Würdigung miteinbezogen werden. Es liegt zudem auf der Hand, dass das Bundesgericht die laufende Debatte im Parlament um Covid-19-bedingte temporäre Reduktionen von Mietzinsen für Geschäftsräume in seine Überlegungen miteinfliessen lässt.
Um es mit Worten von Friedrich Dürrenmatt auf den Punkt zu bringen: «Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.» Insofern zählt im Parlament jedes Votum.
Quellennachweis:
Dürrenmatt Friedrich: Die Physiker, Diogenes (Neufassung), 1980 S. 85.
Koller Alfred: Schweizerisches Obligationenrecht Allgemeiner Teil OR AT Handbuch des allgemeinen Schuldrechts, Bern 2009, S.369 ff.
Schwarz Gerhard: Wo die Schweiz mit Marktferne protzt, NZZ, 6. Juni 2020, S. 9.
https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19110009/index.html
https://www.nzz.ch/wirtschaft/corona-vorsicht-bei-mietrechtlichen-schnellschuessen-ld.1559716
https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20203161
Bildnachweis:
Basler Mietvertrag, Ausgabe 1964 (Zwischen dem Hausbesitzer-Verein und dem Mieterverein Basel vereinbarte Fassung).