Die Ankündigung
Anfang Juli 2018 entdeckte ich ein Inserat: Ein Wohn- und Geschäftshaus im Zürcher Kreis 6 sollte unter den Hammer kommen. Die Teilnahme am Versteigerungstermin war für mich gesetzt. Nicht ein Anlagenotstand motivierte mich dazu, sondern eine unverhohlene Neugier. Die benötigte Zeit würde ich unter der Rubrik Feldforschung abbuchen. Die Unterlagen wie Grundbuchauszug, Mieterspiegel, Katasterplan, Steigerungsbedingungen und einen Beschrieb der Liegenschaft erhielt ich von den zuständigen Behörden postwendend per E-Mail. Auf eine Besichtigung verzichtete ich. Den Standort kenne ich wie meine Westentasche. Die Mieteinnahmen der fraglichen Liegenschaft bewegen sich aktuell um 180'000 Franken pro Jahr. Laut einem Schätzungsbericht der Zürcher Kantonalbank beträgt der geschätzte Marktwert 5.4 Millionen Franken. Die Schätzung war nicht mehr taufrisch. Sie stammte aus dem Jahre 2014.
Die Auktion
Auf welchem Niveau bewegt sich aber die aktuelle Zahlungsbereitschaft? Die Antwort bekam ich letzte Woche. Es war ein milder Nachmittag im Spätsommer 2018. Bereits auf dem Spaziergang zum Restaurant begegnete ich potenziellen Interessen. Der Saal des Restaurants, wo die Gant stattfinden sollte, füllte sich rasch. Es waren gegen 100 Personen vor Ort. Nach der Begrüssung und dem Verlesen der Steigerungsbedingungen folgte eine kurze Fragerunde. Um 14.20 Uhr wurde die Auktion mit einem schriftlichen Angebot eröffnet. Es lag bei 4.9 Millionen Franken. Es folgten weitere 56 mündliche Angebote. Insgesamt beteiligten sieben Personen am Bietergefecht. Vor 15 Uhr lag das höchste Gebot bei 7.59 Millionen Franken. Quasi in Echtzeit konnte das Publikum die Preisbildung vor Ort mitverfolgen. Ein Spannungsbogen hatte sich aufgebaut. Sollte eine Erhöhung um 54.9% (bezogen auf das Erstgebot) reichen, um den finalen Zuschlag zu erhalten? «Zum Ersten, zum Zweiten...». Nein, es langte nicht. Erst das 58. Angebot mit 7.6 Millionen war das letzte. Die Anwesenden spendeten dem frisch gebackenen Eigentümer einen warmen Applaus. Währenddessen rechnete ich kurz: 180'000 Franken dividiert durch 7.6 Millionen Franken ergab eine statistische Bruttoanfangsrendite von 2.368%. Hoppla, schoss es mir durch den Kopf, ein aggressiver Preis. Obwohl die Mikrolage des Grundstücks für diese Art von Liegenschaft exzellent ist, dünkte mich, dass die resultierende Kennziffer doch am obersten Ende der Fahnenstange anzusiedeln war. Der sogenannte Anlagenotstand und die Negativzinsen waren in meinem Unterbewusstsein rasch als glaubwürdige Erklärungen zur Stelle. Unabhängig davon bot mir meine erste Teilnahme an einer öffentlichen Grundstücksauktion das gewünschte und vor allem authentisches Anschauungs- und Datenmaterial.
Die Nachbearbeitung
Zuhause angekommen beugte ich mich ein weiteres Mal über die Unterlagen der Liegenschaft. Und siehe da: Ich hatte den Mieterspiegel zwar richtig in Erinnerung, aber darin waren die bis dato durch den Verkäufer belegten Flächen und Räume mit null Franken Mietertrag ausgewiesen. Logisch, dass er sich selbst keine Miete bezahlt hat. Meine spontan gemachte Überschlagsrechnung in Bezug auf die Bruttoanfangsrendite war fachlich und mathematisch korrekt berechnet worden. Gleichwohl war der errechnete Kennwert falsch und irreführend zugleich. Also bitte, verwenden Sie meine Berechnung keinesfalls als Vergleichswert oder gar als Beleg für den «überhitzten» Immobilienmarkt! Denn unter Berücksichtigung des Mietzinspotenzials der bisher nicht an Dritte vermieteten Flächen ergibt sich eine geschätzte Bruttoanfangsrendite von rund 3.7%. Zudem besteht ein bauliches Aufstockungspotenzial, das sich aber erst langfristig, wenn überhaupt realisiert lässt. Obwohl auch diese Rendite nicht üppig ausfällt, ist ihr Wert doch deutlich von einem Rekordwert entfernt. Einmal mehr wurde mir bewusst, dass jeder Kennwert einen invididuellen Rahmen besitzt. Man muss ihn kennen. Nur mit dessen Kenntnis lassen sich schlüssige Interpretationen erarbeiten. Ansonsten fischt man im Trüben. Doch wie rasch kursiert Gehörtes in der Branche?
Der grosse Kontext
Vor rund 10 Jahren erreichte die jüngste Finanzkrise ihren Höhepunkt. Im Rückblick hatte sich gezeigt, dass neben etlichen Unzulänglichkeiten und fehlender Risikofähigkeit teilweise auch die verwendeten Risikomodelle versagten. Jede Immobilienbewertung kann für sich genommen als Risikomodell im kleinen Massstab verstanden werden. Entscheidend für die Verlässlichkeit der modellierten Schätzergebnisse sind aber weder die im Schätzprozess angewendete Methode noch die Erfahrung der schätzenden Instanz. Sie gehören ohnehin zu einem soliden Handwerk. Was wirklich zählt, sind lupenreine, unverfälschte und zeitnahe Inputdaten aus den relevanten Märkten, dem Vermietungs- und Transaktionsmarkt. Erst mit ihnen zusammen, kann das gesuchte Bewertungsergebnis richtig kalibriert werden. Die Eichung an und mit diesen Daten aus den beiden Märkten entscheidet am Ende über die Qualität der gemachten Immobilienbewertung. Lückenlose Transparenz lautet daher die Devise.
Das fehlende politische Verständnis
Aus der über 200-jährigen neueren Geschichte des hiesigen Immobilienmarktes lassen sich exakt typische zwei Konstanten herausfiltern: Erstens das notorische Fehlen von «echten», nicht modellierten Marktdaten. Auch die jeweils besten Immobilienschätzer der Schweiz besassen und besitzen lediglich, aber immerhin einen limitierten, subjektiven Einblick ins gesamte Marktgeschehen. Ihnen fehlte und fehlt ein systematischer Zugriff auf die der Sache dienenden Rohdaten. Die Wahrscheinlichkeit von falschen Einschätzungen zur tatsächlich herrschenden Marktsituation sind daher nicht als marginal zu taxieren. Dazu gehört insbesondere das rechtzeitige Erkennen von Marktumschwüngen. Zweitens lässt sich ein roter Faden in der Politik erkennen: Transaktionsdaten von Grundstücken sollten immer wieder als politische Forderung entweder für interessierte Kreise zugänglich gemacht werden oder aus diesen Daten sollten zumindest entsprechende Statistiken erstellt und publiziert werden. Vorzugsweise häuften sich solche Vorstösse immer nach Krisen in den hiesigen Hypothekarmärkten. Kaum waren sie erhoben worden, versandeten sie aber ebenso regelmässig. Für ein erfolgreiches, temporäres Intervenieren des Staates muss man weit zurückblättern. Während der Zeit der Helvetischen Republik (1798-1803) sollten alle Grundstücke auf dem damaligen Staatsgebiet monetär bewertet werden. Damit die amtlichen Schätzer ihre Aufgabe erfüllen könnten, wurden die Gerichtsschreiber und Notare per Dekret aufgefordert, Handänderungsdaten in der Form von Tabellen pro Gemeinde zur Verfügung zu stellen. Man höre und staune. Dazu gehörten das Jahr der Handänderung, der Kaufpreis sowie eine Beschreibung der Liegenschaft selbst. Denn die Aufgabe der Schätzer war eine hehre: Nichts weniger als den «wahren Wert» der Grundstücke mussten sie eruieren.
Die Moral der Geschichte
Die Lernwilligkeit in dieser Materie scheint in der Schweizer Politik gegen null zu tendieren. Damit verbindet sich keineswegs die Forderung nach operativem staatlichen Handeln. Vielmehr ginge es darum, dass der Gesetzgeber entsprechende Leitplanken setzt. Die Daten von allen gehandelten Renditeliegenschaften wären ausnahmslos für Dritte ohne zeitlichen Verzug zugänglich zu machen. Es gilt, dem anhaltenden Blindflug in Bezug auf die tatsächlichen Marktentwicklungen ausserhalb des Segmentes von Wohneigentum ein Ende zu setzen. Denn Vertrauen gegenüber der schätzenden Instanz ist gut, aber empirisches Datenmaterial zu seiner Kontrolle ist besser. Zur Vermeidung von Missverständnissen: Es geht mir nicht darum, dass die gemachten Bewertungen nicht gut wären. Vielmehr ginge es darum zu wissen, wie gut die Bewertung tatsächlich die Befindlichkeit des Transaktionsmarktes vor Ort abbildet. Darüber möchte man als Kunde das höchstmögliche Mass an Gewissheit haben. Oder anders formuliert. Es geht um das erreichbare Komfortniveau aus Sicht des Konsumenten von Bewertungen.
Der Nachtrag
Um die vorletzte Jahrhundertwende konnte man exakt dort, wo sich das gehandelte Wohn- und Geschäftshaus im Kreis 6 der Stadt Zürich befindet, unerschlossenes Bauland im Quartier kaufen. Es kostete damals in Abhängigkeit von der Mikrolage zwischen einem und zwei Franken pro Quadratmeter. Daraus ergeben sich für die Periode von 1900 bis 2004 jährliche nominelle Wertänderungsrenditen von 6.94% bis 7.70%. Sie wurden auf der Basis von Transaktionsdaten berechnet. What else?
Bilder:
Die Grafik zeigt die prozentuale Veränderung der abgegebenen Angebote.
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